Wie groß das Leid der Menschen in Haiti nach dem verheerenden Erdbeben vom vergangenen Dienstag ist, können wir im rund zehn Flugstunden entfernten Minden uns wohl nicht einmal annähernd vorstellen. Unter welch katastrophalen Bedingungen die Überlebenden in den Trümmern und bei Temperaturen von tagsüber mehr als 30 Grad gegen ihre körperlichen und seelischen Verletzungen sowie für Essen, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung kämpfen müssen, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Wie groß auch die Belastung der inzwischen in großer Zahl eingetroffenen Helfer vor Ort ist, die in den Trümmern nach Überlebenden suchen, inzwischen aber fast nur noch Leichen bergen, die unter einfachsten Bedingungen die vielen Verletzten behandeln müssen und die fieberhaft darum bemüht sind, endlich sichere Strukturen für die Verteilung der inzwischen anscheinend massenhaft vor Ort befindlichen Hilfsgüter zu schaffen, lässt sich kaum erahnen. Ganz zu schweigen von dem Geruch über der Hauptstadt, den Zeitungen, Radio und Fernsehen – vielleicht zum Glück – ja nicht direkt vermitteln können.
Wie banal erscheint dagegen die Frage, wie wir als Medienvertreter mit der Jahrhundert-Katastrophe auf der Karibik-Insel umgehen – und doch ist sie für uns wichtig und wir stellen sie uns täglich, seit am vergangenen Dienstag auf Haiti die Erde bebte und soviel Tod, Leid und Zerstörung über das ohnehin schon geschundene Land brachte.
Beispiele für das, was wir unseren Leserinnen und Lesern zumuten können - und was nicht. Dieses ist zumutbar - es zeigt, wie man Schäden ohne Leichen dokumentieren kann... Foto: Humedica
Diese Arbeit kann und soll uns niemand abnehmen – dafür wurden wir ausgebildet, das ist unser Job, dafür werden wir bezahlt. Und doch würde ich mir manchmal wünschen, dass schon die Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die unter zugegeben schwierigsten und bis an die Grenze der physischen wie psychischen Belastung gehenden Bedingungen ihre Arbeit machen, nicht alles fotografieren, filmen und mit Worten beschreiben würden, was sie im Katastrophengebiet sehen und erleben. Es bedarf keiner Fotos von Leichenbergen, extrem entstellten Körpern in den Trümmern völlig zerstörter Häuser und Autos, detaillierten Schilderungen, welch grauenhafte Szenen sich auf dem Zentralfriedhof oder in den Feldlazaretten in Port-au-Prince zutragen, um das ganze Ausmaß der Katastrophe zu schildern. Und es ist auch – wenn nicht zuallererst – eine Frage des Umgangs mit der Würde der Betroffenen.
Dieses Foto halten wir für unzumutbar für eine redaktionelle Veröffentlichung über die Katatstrophe: ist unzumutbar - es zeigt ein ähnliches Motiv wie das obige Foto, allerdings mit deutlich erkennbaren Leichenteilen. Foto: DPA
Auch dieses Foto halten wir für zumutbar: - es zeigt einen abgedeckte Leichnam in einem Sarg und Menschen, die daran vorbeziehen. Es dokumentiert zugleich den Geruch, der in der Stadt herrscht. Foto: EPA/DPA
Bei eigenen Erlebnissen in Krisengebieten wie zuletzt bei der Tsunami-Katastrophe auf Sri Lanka, aber auch während des Völkermords in Ruanda oder verschiedenen Hungerkatastrophen in Somalia, Simbabwe und in Bürgerkriegsländern wie Angola und dem ehemaligen Zaire habe ich die Erfahrung gemacht, dass Medien und Hilfsorganisationen aufeinander angewiesen sind – im Sinne der Menschen, die auf Grund einer akuten Notsituation dringender Hilfe bedürfen. Ohne die oft bestens informierten Helfer vor Ort (die häufig schon viele Jahre in den betroffenen Ländern leben und helfen) könnten die Medien nur sehr unvollständig und oberflächlich berichten. Die Hilfsorganisationen wiederum sind auf die Berichterstattung in den Medien angewiesen, da damit die Spendenbereitschaft messbar deutlich wächst – was auch die Hilfsorganisationen selbst immer wieder bestätigen.
Dabei stehen Hilfsorganisationen wie Medien in – angesichts des Leids der Menschen – fast zynischen Wettbewerben. Wer als Erster über eine Katastrophe berichtet, kann mit großem Publikum und hohen Einschaltquoten rechnen. Und die Hilfsorganisation, die als Erste in einem Katastrophengebiet ihr Fähnchen setzen, eine Krankenstation aufbauen und Nahrungsverteilung organisieren kann und damit in die Medien kommt, liegt meist bei den Spenden ganz vorn – die sie benötigt, um ihre Arbeit überhaupt leisten zu können. Und die kommt wiederum unmittelbar den betroffenen Menschen zugute.
Dieses Foto wiederum halten wir für unzumutbar: es zeigt einen Berg unbedeckter Leichen, wahllos aufgestapelt in einer Straße von Port-au-Prince. Foto: DPA
Wichtig und spannend für mich bleibt die Frage, was dann passiert, wenn der Fokus der Öffentichkeit sich wieder abwendet von Haiti und den Menschen dort, die sicher noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte mit den Folgen der Zerstörung zu kämpfen haben werden. Wenn die vielen Journalisten wieder abgereist sind, weil der „Wert“ der Nachrichten aus Haiti sinkt und von Seite 1 der Zeitungen und den Top-Plätzen in den Fernsehnachrichten verdrängt wird. Wenn anderswo eine Katastrophe passiert und der Troß weiterzieht.
Politiker und Hilfsorganisationen haben bereits angekündigt, sich auf Jahre hin in Haiti zu engagieren. Ich würde mir wünschen, dass dieses Engagement auch die entsprechende journalistische Begleitung finden wird. Denn dann müssten wir uns vielleicht bald nicht mehr die Frage stellen, was noch erträglich ist an Informationen aus Haiti und was nicht. Dann hätten wir vielleicht sogar irgendwann die angenehme Aufgabe, aus einer Fülle positiver Meldungen über den Wiederaufbau dieses immer wieder geschundenen Landes auswählen zu können.
Von Karsten Versick
Politikredaktion