Für einen Dauerradler hat Raphael Lorenz ein ziemlich schäbiges Fahrrad. Nein, ganz billig war es nicht und ja, Scheibenbremsen hat es auch. Aber alt sieht es aus, etwas runtergekommen, nicht gerade gepflegt. Wäre Raphael Lorenz‘ Fahrrad ein Mensch, dann gewiss niemand, der sich jede Woche einen Termin beim Frisör holt. Eher jemand, der so intensiv lebt, dass er es zum Haareschneiden gar nicht mehr schafft. Denn wenn sich dieses Fahrrad über etwas nicht beschweren kann, dann über mangelnde Beanspruchung. 10 000 bis 15 000 Kilometer fährt der 32-Jährige im Jahr. Er macht das, seitdem er 19 Jahre alt ist. Damals stieg er, nachdem er ein Jahr lang das Autofahren genossen hatte, aufs Rad um – und blieb fest im Sattel. Seine Frau hat ein Auto, aber das fährt er höchstens, wenn es zum Großeinkauf oder in den Urlaub geht.
Vermutlich war es sein Vater Ernst-Günther Vehlewald-Lorenz, der dem Sohn das Dauerradeln vererbt hat. „Es hat viel mit dem Vorleben zu tun“, sagt Raphael Lorenz. Sein Vater, den einige den „radelnden Busfahrer“ nennen, war schon exzessiv mit dem Rad unterwegs, als das noch kein ganz großer Trend war, sondern eher etwas, das Körnerpicker taten, die gen Bioladen strampelten. Wenn Kinder sich das jeden Tag anschauen, dann wenden sie sich eines Tages entweder angewidert ab oder die Faszination greift über. Raphael Lorenz packte es.
Doch als Immer-Radler ist er nicht nur gut trainiert und hat das Gefühl, intensiv mit und in den Jahreszeiten zu leben. Er kennt auch die Schwachpunkte, mit denen sich Radfahrer immer wieder konfrontiert sehen, nur zu gut. Wenn Radwege nur auf der Straße markiert sind statt baulich von der Straße getrennt, dann weiß er, wie knapp die Lastwagen manchmal an den Fahrradfahrern vorbeifahren. Er weiß um die Situationen, die entstehen, wenn Parkbuchten sich gleich neben dem Radweg befinden und plötzlich Autotüren aufgehen und auf den Radweg schwenken. Er weiß um das angespannte Verhältnis, das manche Autofahrer zu den Radfahrern haben. „Das Verhältnis ist in Minden so schlecht wie überall“, sagt der Kfz-Mechaniker-Meister. Für viele Autofahrer sei jemand wie er eben kein vollwertiger Verkehrsteilnehmer, auf der Straße gelte aus Sicht vieler Autofahrer das Recht des Stärkeren, zähle die Macht des Stahlummantelten. Autofahren, das sei eben noch immer „die Nummer“, sagt der Leiter der Buswerkstatt der Mindener Kreisbahnen, der gerade in Elternzeit ist.
Ist das nicht ein Widerspruch, wenn jemand, der das Fahrradfahren so sehr liebt, im Fahrzeugbereich arbeitet. Nein, antwortet der zweifache Vater, denn Busfahren sei eine gute Sache. Ob aufs Fahrrad oder in den Bus – egal, das Ziel müsse vor allem sein, wegzukommen von den vielen Autofahrten. „Wir müssen mehr Energie reinstecken, die Leute aufs Fahrrad zu bekommen“, findet der Hahler. Allein: Er fragt sich, ob die Politik dieses Ziel allen Lippenbekenntnissen zum Trotz tatsächlich hat: „In der Automobilindustrie wird ja so viel Geld verdient…“
Und dann sind da noch die vielen Ausreden, die die Leute haben. „Regnet es nicht ständig?“, fragen sie ihn. Dabei fahre Lorenz die sieben Kilometer zur Arbeit nur an rund zehn Tagen pro Jahr im Regen. Auch der Wind könne in Zeiten des E-Bikes keine Ausrede mehr sein, die körperliche Fitness sei inklusive, „herrlich für den Kopf“ sei das Radfahren ohnehin. Warum also fahren nicht noch viel mehr Leute mit dem Rad zur Arbeit? Lorenz antwortet in drei Worten: „Die Faulheit gewinnt.“ Und dann fällt ihm noch etwas ein. Von seiner Heimatstadt wünscht er sich mehr Unterstützung. Kopenhagen, das sei ein Paradies für Fahrradfahrer. Könnte Minden das nicht auch werden? Während die meisten deutschen Städte drei bis vier Euro pro Einwohner und Jahr für den Ausbau von Radwegen ausgeben, sind es in Kopenhagen 23 Euro. Daran sollte Minden sich ein Vorbild nehmen, fordert Raphael Lorenz. Dann – na was schon? – steigt er aufs Fahrrad und radelt davon.
Von Benjamin Piel, Chefredakteur