Der Beschwerdeausschuss 1 des Deutschen Presserates hat auf seiner jüngsten Sitzung die Fotos des ertrunkenen Jungen, dessen Leichnam an einem Strand in Bodrum gefunden worden war, als Dokument der Zeitgeschichte bewertet. Es lagen 19 Beschwerden gegen diverse Zeitungen/Zeitschriften vor, die den Jungen in ihren Print- und Onlineausgaben gezeigt hatten. Alle Beschwerden erachtete der Ausschuss als unbegründet. Die Aufnahmen des Kindes sind nicht unangemessen sensationell und nicht entwürdigend. Der vierjährige Junge war auf der Flucht mit seiner Familie über das Mittelmeer ertrunken. Das Bild löste vielfältige Emotionen aus und hatte weltweit Diskussionen über Flüchtlingspolitik angestoßen. Auch das MT hatte das Foto – auf der Titelseite – veröffentlicht, diese Entscheidung in einem Kommentar des Chefredakteurs begründet und sich auf einer Themenseite mit dem Für und Wider auseinandergesetzt.
Aus Sicht des Beschwerdeausschusses steht das Foto symbolisch für das Leid und die Gefahren, denen sich die Flüchtlinge auf ihrem beschwerlichen Weg nach Europa aussetzen. Die Dokumentation der schrecklichen Folgen von Kriegen, der Gefahren des Schlepperwesens und der Überfahrt nach Europa begründet ein öffentliches Interesse. Das Gesicht des Kindes ist nicht direkt zu erkennen. Seine Persönlichkeitsrechte werden nicht verletzt.
Als unbegründet erachtete der Ausschuss auch die Beschwerden zum Foto der toten Flüchtlinge in einem Lastwagen, das verschiedene Boulevardzeitungen veröffentlicht hatten. 71 Menschen waren in einem von Schleppern gefahrenen Lastwagen erstickt. Aus Sicht des Ausschusses handelt es sich hier um die Berichterstattung über ein schweres Verbrechen. Hieran besteht ein öffentliches Interesse. Die Redaktion dokumentiert mit dem Foto nach Meinung des Ausschusses die schreckliche Realität, ohne die abgebildeten Menschen zu entwürdigen. Diese sind auch nicht identifizierbar. Der Beschwerdeausschuss hält das Foto für furchtbar. Dennoch darf die Realität gezeigt werden, solange die Darstellung nicht unangemessen sensationell ist in dem Sinne, dass die Opfer erneut zu Opfern werden. Das ist hier nicht der Fall. Die Berichterstattung lenkt den Fokus auf die Gefahren und Probleme, mit denen Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa konfrontiert sind. 20 Beschwerden lagen dem Presserat hierzu vor.
Neun öffentliche Rügen für schwere Verstöße gegen den Pressekodex
In anderen vorliegenden Beschwerdefällen erkannte der Presserat auf der Sitzung des Beschwerdeausschusses durchaus schwere Verstöße gegen den Pressekodex. In insgesamt neun Fällen wurden dafür öffentliche Rügen für die betroffenen Medien ausgesprochen:
Sommerrätsel mit Mordopfer
Eine Rüge erhielt der MANNHEIMER MORGEN wegen eines Verstoßes gegen die Ziffern 1 und 8 des Pressekodex. Die Zeitung hatte unter der Überschrift „Ein Spaß für Kreuz- und Querdenker“ ein Sommerrätsel veröffentlicht und darin nach der Herkunft einer jungen Frau gefragt, die ermordet und missbraucht worden war. Zudem hatte die Zeitung den Vornamen und abgekürzten Nachnamen des Opfers genannt und ihr Foto abgedruckt. Der Ausschuss beurteilte dies als Verletzung der Würde und des Persönlichkeitsschutzes des Opfers. Zugleich erkannte er eine Beschädigung des Ansehens der Presse. Zwar hatte die Zeitung den Fehler eingeräumt, eine öffentliche Entschuldung gegenüber den Lesern war aber unterblieben.
Quiz zu Strafverfahren
Wegen eines Verstoßes gegen Ziffer 1 des Kodex (Menschenwürde) wurde TV MOVIE Online gerügt, die auf ihrer Facebook-Seite ein Quiz unter dem Titel „Ex-Kinderstar wegen Ausbeutung verklagt“ veröffentlicht hatte. Zur Auswahl standen vier verschiedene ehemalige Kinderstars. Der Leser konnte raten, welcher in ein Verfahren verwickelt ist. Die Spekulation mit einer Straftat als Quiz hält der Ausschuss für eine menschenunwürdige Methode und einen schweren Verstoß gegen den Kodex.
Diskriminierung von Homosexuellen
Gegen das DELMENHORSTER KREISBLATT wurde eine Rüge wegen der Veröffentlichung eines Leserbriefs ausgesprochen. Der Verfasser hatte darin Homosexualität als „abartige Lebensform“ bezeichnet und sie in die Nähe von Straftaten gerückt. Diese Darstellung ist diskriminierend und verstößt gegen Ziffer 12 des Pressekodex. Verletzt wurde auch Richtlinie 2.6 Pressekodex, nach der bei der Veröffentlichung von Leserbriefen die publizistischen Grundsätze zu beachten sind.
Mehrfacher Mord mit Selfie
Eine schwerwiegende Verletzung der Ziffer 11 (Sensationsberichterstattung) rügte der Ausschuss in der Veröffentlichung eines Videos auf BILD Online. Gezeigt werden im Meer schwimmende Menschen, die sich an Wrackteile klammern und von einem Schiff aus nach und nach erschossen werden. Das Video war offensichtlich von den Tätern selbst erstellt worden, die nach der Tat vor der Kamera posierten. Die Schussszenen mit den getroffenen Opfern wurden zum Teil verpixelt. Eine journalistische Einordnung des Geschehens im Video findet nicht ausreichend statt. In der konkreten Veröffentlichungsform geht die Berichterstattung nach Ansicht des Ausschusses über das Informationsinteresse hinaus und dient vor allem der Befriedigung von Sensationsinteressen.
Archivfotos zu aktuellen Missständen
BILD (Berlin) und B.Z. wurden wegen eines Verstoßes gegen Ziffer 2 (Sorgfalt) gerügt. Die Publikationen hatten zur Illustration einer Berichterstattung über (angebliche) Missstände in einem Brandenburger Tierheim im Mai 2015 zumindest teilweise auf mindestens ein Jahr altes Fotomaterial von verwahrlosten Tieren zurückgegriffen. Die Fotos waren bereits in einer ähnlichen Berichterstattung über das Tierheim im April 2014 veröffentlicht worden. Einen Bericht über die aktuelle Situation mit Archivfotos zu belegen, ohne die Leser über das Alter der Fotos aufzuklären, ist nach Auffassung des Beschwerdeausschusses ein schwerer Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht.
Dreifache Schleichwerbung
Eine Rüge wegen Schleichwerbung erhielt TV HÖREN UND SEHEN. Die Zeitschrift hatte einen Artikel über Schlafprobleme veröffentlicht und dabei die Vorzüge eines bestimmten Wirkstoffs geschildert. Direkt beigestellt war dem Beitrag eine Anzeige für ein Schlafmittel, das genau diesen Wirkstoff enthält. Der Beschwerdeausschuss sah in der engen räumlichen Nähe von Anzeige und redaktionellem Beitrag die Grenze zur Schleichwerbung nach Richtlinie 7.2 des Pressekodex als überschritten an, da die Werbewirkung der Anzeige durch die positive redaktionelle Darstellung des Wirkstoffs verstärkt wird.
Ebenfalls wegen Schleichwerbung gerügt wurde die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG wegen der Veröffentlichung eines Fotos mit Unterzeile auf der Titelseite. Das Bild zeigte zwei junge Frauen mit Regenschirmen, auf die ein Stadtplan von Leipzig aufgedruckt ist, vor dem Kaufhof in Leipzig. In der Bildunterzeile hieß es, dass der Schirm u. a. bei Kaufhof für 19,99 Euro erhältlich sei. Mit der Veröffentlichung wurde die Grenze zur Schleichwerbung überschritten, da ohne redaktionelle Begründung eine einzelne Bezugsquelle hervorgehoben wurde.
Gerügt wurde auch die Zeitschrift PETRA, die in einer Beilage von der Redaktion ausgewählte „32 Sommer-Bücher“ vorgestellt hatte. Dabei wurden jedoch ausschließlich Bücher einer einzigen Verlagsgruppe präsentiert. In dieser Konzentration auf einen einzelnen Anbieter sah der Beschwerdeausschuss Schleichwerbung für dessen Produkte.
Statistik
Weitere 30 Beschwerden führten zu Maßnahmen
Neben den öffentlichen Rügen sprach der Beschwerdeausschuss sieben Missbilligungen und 17 Hinweise aus. Sechs Beschwerden wurden als begründet bewertet, auf eine Maßnahme wurde jedoch verzichtet, 90 Beschwerden wurden als unbegründet erachtet.
Im Jahr 2015 drei Beschwerden gegen MT-Berichterstattung zurückgewiesen
Insgesamt drei Mal hatten sich im Jahr 2015 Leser auch über das MT beim Presserat beschwert. Alle drei Beschwerden wurden abschlägig beschieden.
In einem Fall hatte ein Leser dem MT schon im Jahr 2014 falsche Berichterstattung über ein Recycling-Unternehmen am Bückeburger Hafen vorgeworfen worden. Gegen die zunächst erfolgte Einstellung des Verfahrens wegen nicht ausreichender Begründung war er unter anderem mit einer eidesstattlichen Erklärung vorgegangen und hatte im April eine Wiederaufnahme des Beschwerdeverfahrens erreicht, in dem sich die MT-Redaktion ein weiteres Mal zu äußern hatte. Dabei konnte sie die gegen sie neuerlich erhobenen Vorwürfe unzutreffender Sachdarstellungen unter anderem durch die Beibringung von Dokumenten wie Frachtpapieren und Behördenunterlagen als unzutreffend widerlegen. Die Beschwerde wurde im Oktober daraufhin endgültig als unbegründet abgewiesen.
Ein weiterer Leser hatte im Januar die Überschrift „Scharfe Schüsse gegen Geschäftshaus am Scharn“ nur kurze Zeit nach dem ersten Attentat in Paris als unpassend empfunden. Der Presserat konnte hier allerdings keine Verletzung presseethischer Grundsätze erkennen: es handele sich um ein gängiges sprachliches Bild für eine deutliche Kritik an einem Sachverhalt.
Auch die im April auf der Wochenende-Seite veröffentlichte veröffentlichte Reportage „Sightseeing in spezieller Szene“ über die SM-Clubszene, an der ein Leser auf dem Beschwerdeweg Anstoß genommen hatte, wurde vom Presserat nicht als Verstoß gegen presseethische Grundsätze bewertet. Der Beitrag enthalte keine pornografischen Elemente, höchstens könne man Geschmacksfrage stellen – darüber urteile der Presserat jedoch grundsätzlich nicht.
Alle Beschwerdeführer erhielten mit der ausführlichen Begründung der Entscheidung des Beschwerdeausschusses jeweils auch einen Dank für Ihre Beschwerde, da sie zu einer kritischen Überprüfung der Berichterstattung Anlass gegeben habe.
http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/
Quellen: Presserat/MT