Die MT-Berichterstattung über die Vergewaltigung einer 16-jährigen hat zahlreiche Reaktionen ausgelöst. Beschimpfungen, Verdächtigungen und Unterstellungen sind in Fällen wie diesem inzwischen Alltag für die Redaktion. Repros: MT
Die Nachricht ist schrecklich: Eine 16 jährige junge Frau wird am helllichten Tag mitten in der Stadt überfallen, in einen Keller gezerrt, vergewaltigt. Das Verbrechen wühlt alle auf, die davon lesen oder hören. Es ist spät am Samstagnachmittag. Der Pressesprecher der Polizei teilt mit, dass der Tatverdächtige verhaftet ist. Und er bittet darum, mit der Veröffentlichung zu warten, bis die im Umgang mit traumatisierten Opfern geschulten Fachkräfte mit der Familie und dem Mädchen gesprochen haben. Sie sollen darauf vorbereitet werden, dass die Vergewaltigung öffentlich gemacht wird. Das jedoch geht erst am Montagmorgen.
Die Kolleginnen in der Redaktion diskutieren nur kurz. Es ist für uns klar, dass die 16-Jährige nicht zum zweiten Mal zum Opfer werden soll. Wenn es hilft, mit der Publikation zu warten, dann wird gewartet. Auch das gehört zur journalistischen Verantwortung. Der Täter ist gefasst, also muss die Öffentlichkeit nicht gewarnt werden. Darum veröffentlichen wir den Bericht erst am Montag, nachdem die Opferschützer bei der Familie waren.
Jetzt geht es los“, sagt die Kollegin, die an diesem Tag die Social Media des MT betreut, nachdem sie die Information auf Facebook gepostet hat. Die Reaktionen und Kommentare sind wie immer absehbar, aber darum nicht weniger problematisch. Da gibt es die „Schwanz ab“ und „lyncht ihn“ – Truppe, die „typisch Flüchtling“ und „alle einsperren“ – Fraktion. Die, die fordern, alle Einwanderer sollten zwangskastriert werden. Reaktionen von Menschen, denen das Leid des Opfers völlig egal ist, für die dieses konkrete Verbrechen nur eine eifrig ergriffene Gelegenheit ist, eine Plattform, auf der sie ihre Hass-Gedanken ausschütten können.
Dann sind da die Misstrauischen, die sich an der Art der Veröffentlichung abarbeiten. Hat das MT die Wahl beeinflussen wollen? Wie, fragt man sich, hätte das funktioniert? Hätten viel mehr Menschen – wenn sie nur von dem Verbrechen gewusst hätten – die AfD gewählt oder sich nicht für die SPD entschieden? Diese Vermutung sagt viel darüber aus, für wie undifferenziert hier die Wähler gehalten werden. Ändert wirklich jemand wegen eines schrecklichen Verbrechens in seiner Stadt grundsätzlich seine politische Meinung? Zumal an diesem Wochenende kaum Fakten über die Tat bekannt sind.
Viel mehr noch enthüllen diese Gedanken das Weltbild derer, die sie äußern: Sie sehen diese Tat nicht als die eines Einzelnen, sondern als vermeintlich typisch für eine ganze Gruppe von Personen, die Geflüchteten, oder vielleicht die Ausländer. Oder vielleicht auch die Menschen aus Afrika mit anderer Hautfarbe als die meisten derer, die hier wohnen. Aber genau das sind rassistische Gedanken: Verurteilung einer ganze Gruppe aufgrund körperlicher Merkmale.
„Passt doch in das Gesamtbild: Afrikaner, Köln, antanzen und so“, sagt im Verlauf der weiteren Recherchen auch eine MT-Kollegin. Ja, vielleicht werden das die Ermittlungen ergeben. Allerdings werden im Zusammenhang mit den Vorkommnissen auf der Kölner Domplatte vor allem Nordafrikaner als Täter genannt. Andererseits: Als im vergangenen Jahr eine Frau auf der Opferstraße angegriffen wurde, waren die Täter ebenfalls Afrikaner. Unser Gehirn ist so gestrickt, dass es Muster sucht. Ob hier ein Muster ist? Das werden die Fachleute bei der Polizei einschätzen können – und wir als Redakteurinnen werden sie danach fragen. Wer das ganz sicher nicht einschätzen kann: All die Kommentatoren, die auf Facebook seit Montagmorgen „Ausländer raus“ in allen Facetten fordern.
Manche beschweren sich auch darüber, dass es ein Plus-Inhalt ist. So eine aus ihrer Sicht wichtige Nachricht müsse doch frei zugänglich für alle sein, finden sie. „Typisch MT“, „manipulativ“ – das sei wohl so, damit vermeintlich unliebsame Nachrichten nicht an die Öffentlichkeit gelangen, wird vermutet. Manchmal verbinden sich diese Verdächtigungen auch mit denen über den Zeitpunkt der Veröffentlichung. Dass das MT inzwischen seit Jahren eine Paywall hat und Nicht-Abonnenten für Nachrichten zahlen müssen, übersehen diese Verschwörungstheoretiker geflissentlich. Zur Bestätigung nennen sie auch Beispiele von Medienhäusern, wo das anders sei – Beispiele, die nicht stimmen.
Wie kann man über dieses Verbrechen schreiben, ohne in den Köpfen der Leser Bilder von der Tat zu erzeugen? Ohne das Opfer in den Mittelpunkt zu stellen, ohne sein Leid publizistisch auszuschlachten? Die Redaktion entscheidet sich für die Einbettung in einige nüchterne Informationen aus der Polizeistatistik. Und ruft damit jene auf den Plan, die sich als Anwalt des Opfers gegen die Presse verstehen. Damit sei das Leid dieses einen Mädchens negiert worden, wird später ein Leser schreiben. Die Redaktion solle sich bei der Familie entschuldigen. Ein anderer ruft an: „Manipulation“ sei das. Ein dritter schreibt gar „linksgrün versiffte Lumpenpresse – was soll die relativierende Statistik in diesem Artikel, hä????“ Das ist schnell erklärt: Vergewaltigungen nach einem Überfall sind vergleichsweise selten. Diese Information ist zur Einordnung der Tat in diesem Kontext relevant. Sie relativiert nicht das Leid des Opfers. In den Abwägungen der Redaktion hat auch hier der Opferschutz eine übergeordnete Bedeutung.
Besonders in diesem Fall reden wir viel miteinander, wägen ab. Auch, um unsere eigenen Vorurteile und Fehleinschätzungen zu sehen. Und uns nicht von Emotionen bei der Recherche leiten zu lassen. Denn wenn wir von einem Verbrechen wie diesem hören, reagieren wir wie jeder andere erst einmal emotional. Es bewegt uns, verunsichert uns, macht uns besorgt; ängstlich, durch die Stadt zu gehen, wütend, dass es – von wem auch immer – nicht verhindert wurde. Wir suchen Muster, Schuldige, Versäumnisse. Wie jeder andere auch. Aber dann recherchieren wir Fakten. Als Profis und Journalisten.
Im Laufe der Recherchen wird die Redaktion enthüllen, dass der Täter schon den ganzen Tag über als Randalierer aufgefallen war, dass Polizisten mehrfach Kontakt mit ihm hatten, ihn beispielsweise aus der Stadtverwaltung wiesen. Dass er Nachbarinnen aufgefallen war, die mitbekamen, wie er Frauen in der Gasse belästigte. Wir recherchieren weiter. Denn für uns Journalistinnen ist der Auftrag, sachlich und entlang von Fakten zu arbeiten.
Und genau das tun wir.
Von Monika Jäger, Leiterin der Lokalredaktion