Mein Trauma köchelt auf kleiner Flamme
Steckrüben-eintopf – das hat was von Dunkelheit, Notzeit, Tristesse pur. „Blood, Sweat and Tears“, um mit Winston Churchill zu sprechen. Blut, Schweiß und Tränen, und mit Schweiß hatte der nahrhafte Eintopf für mich tatsächlich etwas zu tun – und mit nasskalten Fingern und einem krummen Rücken.
Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, bis ich mein Kindheits- und Jugendtrauma überwunden habe. Steckrübeneintopf stand ganz bestimmt nicht auf Platz 1 meiner Lieblingsgerichte. Bei den Eintöpfen stand er hinter Erbseneintopf und Blindhuhn allenfalls auf Platz 3 – und an einen vierten kann ich mich nicht mehr erinnern.
Sobald die dunkle Jahreszeit anbrach, wenn die Steckrüben geerntet werden konnten, gab es bei uns zu Haus mindestens einmal im Monat den bei meinen Großeltern beliebten Eintopf – Alte-Leute-Essen, meine Schwester und ich, wir hätten lieber Nudeln gegessen (Pizza kannten wir noch nicht, Spaghetti nur aus der Miracoli-Werbung).
Besonders fatal waren die Fettaugen und Fleischstücke in dem Eintopf. Ich glaube, gerade wegen des Bauchspecks aßen meine Großeltern Steckrübeneintopf so gern. Ich wäre deswegen fast zum Vegetarier geworden, nur kannte ich das Wort damals noch nicht (nicht mal aus der Werbung), und auf einem kleinen Nebenerwerbsbauernhof mit eigener Hausschlachtung war und ist so etwas auch so gut wie unmöglich.
Immerhin bildete sich so früh eine Überlebensgemeinschaft zwischen Jung und Alt heraus: Oma und Opa langten ordentlich zu, während ich pflanzliche Nahrungsbestandteile aus dem Suppentopf fischte. Dafür hatte ich meine Großeltern dann doch wieder lieb.
Richtig traumatisch wurde meine Beziehung zur Steckrübe – lateinisch: Brassica napus subspecies rapifera – aber erst, als ich nach der Schule auf dem Acker hinter unserem Haus helfen musste. Es fing damit an, das Steckrübenstecklinge nach der Gerstenernte erst mal in die Erde gebracht werden mussten.
Dafür hatte mein Vater einen doppelsitzigen Pflanzer angeschafft, der an der Ackerschiene hinter dem Trecker befestigt wurde. Darauf saßen wir nebeneinander und legten regelmäßig Stecklinge zwischen zwei sich drehende flexible Metallscheiben, die den Steckling in die Erde brachten und wieder freigaben.
Einem jungen Rücken machte die stundenlange, monotone Arbeit nichts, eher schon einem jungen, widerspenstigen Geist, der lieber mit Freunden und später der Freundin die Freizeit nach den Schulaufgaben verbracht hätte. Der Lärm des Traktors übertönte das Grummeln, Lärmschutz kannten wir noch nicht, und auch die Abgase, die der Deutz Diesel den beiden Pflanzern hinter seinem Auspuff unaufhörlich ins Gesicht blies, schien nicht so schlimm. Feinstaub war noch nicht entdeckt – und wenn, dann ein Fremdwort für uns.
Schlimmer brannte sich die Ernte in mein Gedächtnis ein. Ab Oktober mussten die ein Kilogramm schweren Rüben dem Boden entrissen werden. In eine Reihe gelegt, wurden die Blätter mit einem Spaten möglichst treffsicher abgesteckt, die Rüben hinterher aufgeladen – vorzugsweise von Hand, damit sie nicht bei der Lagerung auf der Diele während des Winters infolge des Stichs durch eine Forke anfaulten. So genau nahmen wir das später aber wohl nicht mehr.
Das Unangenehmste bei all dem war stets die Ernte am Samstagmorgen, wenn mein Vater freihatte und wir früh aufs Feld konnten. Besonders im November lag noch der Tau, manchmal auch Raureif oder Regen, auf den Blättern. Die nasse Kälte drang durch die Handschuhe und wurde auch dann nicht besser, wenn man sich warm gearbeitet hatte und der Schweiß über den immer krummeren Rücken zu rinnen begann. Wohl von da an habe ich aufgehört, Steckrübeneintopf zu essen. Ein persönliches Trauma!
Später, in der Uni, gab es alle möglichen, auch exotischen Gerichte. Steckrüben habe ich nie auf der Speisekarte der Mensa entdeckt – oder völlig traumatisiert überlesen. Erst als ich für ein französisches Gericht eine Rübe brauchte – aber eine Art, die es bei uns nicht gibt -, habe ich wohl eher als Ersatz meine erste Steckrübe gekauft. Und siehe da: Sie schmeckte gar nicht so schlecht.
Es soll auch vegetarische Varianten geben
Für meinen allerersten Eintopf habe ich aber ein Rezept ohne Bauchfleisch gewählt und lieber zu Kasseler gegriffen. Während der Eintopf auf kleiner Flamme köchelt, läuft noch mal dieser Film von herbstlicher Tristesse in meinem Kopf ab. Der Eintopf schmeckt hinterher nicht zuletzt dank des Thymians erstaunlich frisch und lecker. Vielleicht wage ich mich jetzt auch noch an eine vegetarische Variante heran.
Meine Frau, die nicht mit Steckrüben aufgewachsen ist, isst von meinem Eintopf gleich zwei Mal: zum ersten und zum letzten Mal. Auch ich genieße meine Steckrübe, wie es sich für einen guten Eintopf gehört, doppelt. Am zweiten Tag schmeckt sie sogar noch besser.