Jede Redaktion hat ihre Floskeln für den nachrichtlichen Ausnahmezustand – ein Ereignis von größtem anzunehmenden Interesse. Für so einen Fall, in dem blitzartig alles andere links liegen gelassen wird, um sich nur noch diesem einen, wichtigen Thema zu widmen. Beim MT umschreiben wir diesen Fall etwas flapsig mit dem Begriff „Der Dom brennt“. Wenn der Dom brennt, wird nicht nur das Bereitschaftshandy alarmiert, sondern jeder Kollege, der erreichbar ist, in die Redaktion gerufen. Wenn der Dom brennt, ist jede Nachricht wichtig und keine überflüssig, dann spielen wir das gesamte Spektrum unseres redaktionellen Könnens ab. Wenn der Dom brennt, gehen wir davon aus, dass die Menschen der Region gebannt vor ihren Rechnern und an ihren Handys sitzen und auf jede neue Nachricht von uns warten. Das ist unsere große Stunde. So ein „brennender Dom“ kommt rein statistisch gesehen nur alle Jubeljahre vor. Der Großbrand beim Entsorger Tönsmeier im Jahr 2013 war so ein Fall.
Am 28. Juli 2014 – einem aus Redaktionssicht mehr als unspektakulären Montag – brach der Ausnahmezustand gegen 15 Uhr erneut völlig unerwartet über die Redaktion herein. Ein Kollege hatte einen Anruf bekommen: Eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg sei bei Straßenbauarbeiten an der Rodenbecker Straße gefunden worden. Noch sei nichts offiziell, aber es könne sein, dass die gesamte Innenstadt evakuiert werden müsse. Der Krisenstab der Stadt sitze zusammen.
Solche Fälle lösen bei Journalisten den immer gleichen Reflex aus: Sie greifen zum Telefon und rufen jeden an, der etwas Hilfreiches zum Thema wissen könnte. Parallel wird ein Schlachtplan erstellt: Wo können Fotos gemacht werden? Wer kann die Information außerhalb des Krisenstabs noch sicher bestätigen? Welche Gebiete wären von einer Evakuierung betroffen und wie illustriert man sie am besten?
Fragen, wie sie Journalisten vor 160 Jahren auch schon gestellt hätten. Die Dimension dieser Fragen ist heute jedoch eine völlig andere, ebenso wie die Zeit, in der sie beantwortet werden müssen. Der Fall vom 28. Juli 2014 zeigt eindrucksvoll, wie sehr sich das Tageszeitungsgeschäft verändert hat.
Als lokale Nachrichten noch einzig und allein am Frühstückstisch konsumiert und diskutiert wurden, drehte sich in Redaktionen alles um den Andruck der Zeitung – alles vorher und nachher war unwichtig. Viele Fragen stellten sich deswegen auch gar nicht. Zum Beispiel: Ab welchem Zeitpunkt gilt eine Information als sicher genug, um sie öffentlich zu machen? Oder: Welche Fragen stellt sich jemand, der sein Haus innerhalb der nächsten Stunde verlassen muss, und wie kann man sie schnellstmöglich beantworten?
Das Internet und die Sozialen Netzwerke haben den Drucktermin der Zeitung zu einem von vielen Ereignissen im Tag eines Redakteurs gemacht. Es gibt nicht mehr die eine Deadline – jede Nachricht hat nun ihre eigene Deadline. Und das Nachrichtengeschehen entwickelt sich online stetig weiter: Durch Diskussionen auf Facebook und Twitter und Veröffentlichungen der Behörden, die das Netz ebenfalls für Infos nutzen. Die Nachrichtenlage ist vielschichtiger geworden und mit ihr der Job von Journalisten.
Am 28. Juli 2014 beginnt alles mit einem ersten Artikel auf MT.de. Um 16 Uhr berichtet die Redaktion, dass 5000 Menschen wegen der Entschärfung der Fliegerbombe ihre Häuser verlassen müssen. Dazu gibt es eine Karte, die das betroffene Gebiet zeigt und Telefonnummern, an die sich Betroffene bei Fragen wenden können. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer, der Artikel ist binnen einer Stunde der meistgelesene Text auf MT.de.
Mittlerweile ist ein ganzes Redaktions-Team mit der Recherche rund um die Entschärfung betraut: Fotograf Alex Lehn fährt die wichtigsten Orte ab, um Bilder der Evakuierung zu machen. Zwei Kollegen und ein Video-Redakteur sind ebenfalls in der Stadt unterwegs, um sich einen Überblick zu verschaffen, mit Einsatzkräften und Betroffenen zu sprechen und die Informationen per Telefon und Whatsapp weiter zu geben. In der Redaktion telefoniert jede freie Kraft, um neue Infos zu beschaffen, die Planer von Zeitung und Online-Auftritt beraten unterdessen, welche Geschichte wo veröffentlicht wird, welche Bilder gebraucht werden und wann die jeweilige Deadline ist.
Um kurz nach 17 Uhr wird entschieden: Die Ereignisse überschlagen sich, das kann nur noch ein Live-Ticker abbilden. Zehn Minuten später wird online der erste Post dazu veröffentlicht, 34 weitere werden folgen – dazu Fotostrecken, zwei Videos, Grafiken, Posts in Sozialen Netzwerken. Jede eingehende Information wird geprüft, gegebenenfalls korrigiert und sofort in den Ticker eingespeist. Parallel dazu entstehen die ersten Artikel auf den Zeitungsseiten – zunächst nur leere Textboxen mit Platzhaltern für Fotos. Im Laufe des Abends werden sie sich nach und nach füllen.
Auch Kollegen im Feierabend melden sich jetzt. Einige haben auf dem Heimweg etwas entdeckt und geben die Infos durch. Andere sind direkt wieder umgedreht und haben sich zurück an ihren Schreibtisch begeben: Ein Blindgänger kennt keinen Redaktionsschluss.
In den Sozialen Netzwerken wird bereits heiß diskutiert und nachgefragt. Die Redaktion beantwortet so viele Fragen wie möglich. So kommt es auch zum Service-Text: „Wichtige Fragen und Antworten zur Evakuierung“ in dem unter anderem erklärt wird, ob Haustiere mitgenommen werden dürfen und welche wichtigen Dokumente in Sicherheit gebracht werden sollten. Das Konzept für die Zeitung steht jetzt: Auf der Seite 1 soll die aktuelle Nachricht zur entschärften Bombe Platz finden. Die Seite 3 widmet sich der organisatorischen Herausforderung rund um die Evakuierung. Eine weitere Seite beschäftigt sich mit den Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten.
MT.de meldet unterdessen, dass sich das Entschärfen der Bombe verzögert. Der ursprüngliche Termin um 22 Uhr ist wegen der vielen Liegendtransporte nicht zu halten. Damit ist auch klar: Für die Zeitung wird es knapp. Um Mitternacht müssen alle Seiten fertig sein, gut möglich, dass die Bombe erst später entschärft ist. Ein Plan B muss her. Die Seiten werden erneut angeglichen und gehen pünktlich in den Druck.
Es ist 2.30 Uhr, als die evakuierten Mindener in ihre Wohnungen zurück dürfen – in der Redaktion ist da immer noch nicht Schluss. Immerhin fehlen noch ein Foto des Blindgängers und ein Interview mit dem Helden des Tages vom Kampfmittelräumdienst. Der Kollege rückt erneut mit der Videokamera zum Pressetermin aus und schickt der Redaktion 30 Minuten später ein erstes Bild der Bombe per Handy. Weitere 30 Minuten später kommt er zurück und schneidet das Video. Parallel werden schon mal Texte und Bilder für die nächste Zeitungsausgabe gesammelt. In der wird dann auch von der geglückten Entschärfung berichtet. Der Live-Ticker ist dann schon alt, stattdessen finden die zahlreichen Hintergrundgeschichten Platz, die die Redakteure recherchiert haben.
Es ist vier Uhr morgens, als auch die Online-Redaktion die Rechner herunterfährt und das Licht ausmacht. Die Übergabe für den Frühdienst ist geschrieben, mit einem Feierabendbier in der Hand geht es die Treppen des Gebäudes an der Obermarktstraße herunter, vorm Ausgang wird ein letztes Selfie gemacht. Jetzt ist offiziell Feierabend: Fünf Stunden lang wird es keine Aktualisierung mehr geben. Dann kommt der Frühdienst und übernimmt.
Alles eine Frage der Zeit.
Von Nina Könemann, Leiterin Online-Redaktion
Der Beitrag ist Teil unserer Sonderausgabe „160 Jahre“, die wir am 8. November 2014 als Bestandteil eines gedruckten „MT für Alle“ veröffentlicht haben. An diesem Tag waren die Artikel des auch Nichtabonnenten kostenlos zugestellten Printexemplars inklusive Sonderausgabe auch online kostenlos zu lesen. Nach Ablauf des Promotion-Zeitraums sind sie auf MT.de nun wieder Bestandteil des kostenpflichtigen Angebots an Plus-Inhalten. Eine Übersicht über die Artikel der Sonderausgabe gibt es auf dieser Übersichtsseite: