Im Internet ist nicht nur – theoretisch – das Wissen der ganzen Welt abrufbar. Es steht vor allem auch auf Knopfdruck zur Verfügung, jederzeit und überall, wo ein Internetzugang vorhanden ist. Das verschafft dem Begriff „Öffentlichkeit“ noch einmal eine völlig neue, radikale Dimension, die selbst im vorangegangenen Zeitalter der „klassischen“ Massenmedien Zeitung und Zeitschrift, Hörfunk und Fernsehen unvorstellbar war.
Denn dort konnten zwar auch schon massenhaft und gleichzeitig Inhalte geteilt werden, aber nur im Augenblick ihrer Kommunikation. Gedruckte Zeitungsartikel, gesendete Hörfunk- oder TV-Beiträge wanderten anschließend ins Archiv. Dort konnten sie zwar auch gefunden werden, dazu aber brauchte es Wege und Zeit, andere Ressourcen, oft Spezialistenwissen. Mit anderen Worten: diese Inhalte waren vorhanden, aber nicht allgemein und schon gar nicht leicht zugänglich.
Heute steht alles, was jemals im Internet veröffentlicht wurde – im Prinzip – jedermann auf Mausklick zur Verfügung, und das sofort. Benötigt wird nicht mehr als das Stichwortfenster einer Suchmaschine. Damit ist die in Veröffentlichungen festgehaltene Vergangenheit leichter erschließbar denn je – und das wird für die veröffentlichenden (korrekterweise müsste es heißen: veröffentlicht habenden) Medien zunehmend zum Problem. Zugegebenermaßen durchaus auch für manche Objekte der Berichterstattung, die – in dem einen oder anderen Fall durchaus nachvollziehbar – dies gern nicht (mehr) wären. Was der Anwaltszunft ein neues lukratives Einnahmefeld erschlossen hat.
Drei Beispiele allein aus dieser Woche:
- Ein relativ erfolgreicher junger Teilnehmer eines TV-Castingformats, der seinerzeit gern für entsprechende Publicity sorgte und dafür auch schon mal ein MT-Video besang, bewirbt sich jetzt bei einem anderen Sender. Die früheren Veröffentlichungen kommen ihm da nicht zupass, also will er sie gelöscht haben. Begründung: das könne sich negativ auf den Wettbewerbsverlauf auswirken oder „nervige Fragen von Medien, Fans und Supportern“ nach sich ziehen, die er sich lieber ersparen wolle.
- Eine ehemalige Ratskandidatin, die sich in einem Jahre zurück liegenden Kommunalwahlkampf mit entsprechenden persönlichen Angaben und Bild der geneigten Leserschaft online und print präsentierte, möchte davon jetzt nichts mehr wissen. Dass die Redaktion die Online-Veröffentlichungen bereits dem direkten Zugriff der Suchmaschinen entzogen hat, reicht ihr nicht, sie will jetzt auch noch die Abbildung der entsprechenden MT-Seite, die als PDF weiter zu finden ist (wenn auch nur mit Mühe), um ihre Person bereinigt wissen. Begründung: Bild und Daten seien privat. Dass sie sich damit um ein öffentliches Amt beworben hat und (nicht nur) uns Bild und Informationen zu diesem Zweck selbst zur Verfügung gestellt hat, spielt anscheinend für sie keine Rolle.
- Ein ehemaliger Pächter eines gastronomischen Betriebes verlangt, den Bericht über eine mehrere Jahre zurückliegende Gerichtsverhandlung aus dem Internet zu nehmen. Dort hatte der schließlich wegen Brandstiftung an seiner Immobilie verurteilte angeklagte Eigentümer sich negativ über seinen Pächter geäußert. Doch die öffentliche Gerichtsverhandlung hat stattgefunden, die Äußerungen sind verbürgt und bilden die Grundlage für eine Erklärung der Kurzschlusshandlung des Brandstifters. Der ehemalige Pächter lebt längst woanders, wird nach eigener Aussage aber immer wieder mit dem Thema konfrontiert.
Fälle wie diese häufen sich. Ihnen allen gemein ist die Forderung, Berichterstattung – teils einst selbst gewollte – im Nachhinein ungeschehen zu machen oder zu verändern. Natürlich wird jede einzelne dieser Forderungen intensiv geprüft, wenn sie nicht ohnehin gleich auf dem juristischen Wege vorgetragen und im Zweifel streitig vor Gericht ausgetragen werden. Manchmal ist der Wunsch, mit einem Teil der persönlichen Vergangenheit nicht mehr in Verbindung gebracht werden zu wollen, durchaus nachvollziehbar. Mit völligem Löschen tun wir uns jedoch prinzipiell ziemlich schwer. In begründeten Fällen kommt das MT diesem Interesse aber schon einmal mit Namensänderung (bei entsprechendem redaktionellem Hinweis) oder Anonymisierung nach.
In anderen Fällen lehnen wir ab. Grundsätzlich zum Beispiel das Ändern von (in der Regel als PDF oder JPG abgelegten) Wiedergaben gedruckter Zeitungsseiten. Das käme für uns dem nachträglichen Verändern der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bestehenden Realität gleich. Der nächste Schritt müsste dann logischerweise eigentlich das Herausschneiden der entsprechenden Passagen aus allen noch vorhandenen Papierexemplaren sein, etwa im Kommunal- oder dem MT-Bändearchiv, sowie allen archivierten Presseausschnitten bei Behörden oder sonstwo.
Womöglich werden wir aber bald bei jedem digital aufgehobenen Artikel einen Zusatz abspeichern müssen: „Achtung: Inhalt entspricht dem Wissensstand zum Veröffentlichungsdatum – siehe Dokumenteninformation.“ Und schon jetzt steht fest, dass das Thema der allgemeinen Zugänglichkeit einmal veröffentlichter Informationen auch im MT-Verbreitungsgebiet demnächst eine weitere Dimension erhalten wird. Gerade hat das Mindener Tageblatt die Digitalisierung seines Bände-Archivs abgeschlossen, mehr als 600.000 Zeitungsseiten wurden dabei gescannt und für die Erfassung durch Suchmaschinen vorbereitet, zurückgehend bis zur ersten Ausgabe am 5. Juli 1856. Dieses digitale Archiv, das der Redaktion bereits zu Recherchezwecken zur Verfügung steht, soll dann auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Vermutlich werden sich Anfragen wie die oben geschilderten dann erst recht häufen.
Autor: Christoph Pepper, Chefredakteur